Preview (Kino): Who Am I - Kein System ist sicher
Vor der Hacker-Gruppe Clay bleibst auch du nicht sicher: Nach dem Motto „Lass sie nicht merken, dass du sie manipulierst“ (Zitat Elyas M’Barek alias Max) wiegt das Schauspiel-Quartett um Tom Schilling den Zuschauer in Sicherheit, während es gekonnt mit Sehkonventionen und damit mit dir spielt…
Benjamins (Tom Schilling) Leben wird durch Extreme bestimmt: In der realen Welt beschreibt er sich als einen unsichtbaren Niemand. Im Netz kann er sein, wer er möchte, sogar ein Superheld. Das macht ihm zumindest sein neuer Freund Max (Elyas M’Barek) klar, der ihn mit seiner Hacker-Gruppe bekannt macht. Aus den ungleichen Freunden entsteht die Crew Clay („Clowns laugh at you“), die versucht, sich im Netz einen Namen zu machen: Sie beginnen mit harmlosen Angriffen auf Pharmakonzerne und knacken schließlich das Sicherheitssystem des BND…
Gleich zu Beginn von Who Am I nimmt Tom Schilling den Zuschauer als Ich-Erzähler an die Hand, um Sympathien mit dem unscheinbaren Niemand aufzubauen. Das Internet bietet ihm endlich die Möglichkeit, den Respekt zu erlangen, den er in der realen Welt nicht entgegengebracht bekommt. Obwohl der Zuschauer durch Clay lernt, dass man mit Dreistigkeit und Manipulationen viel weiter im Leben kommt, hat man Mitleid mit Benjamin und vertraut ihm (Schilling ist schließlich bekannt für seine emotional sehr labilen aber anspruchsvollen Rollen wie in Napola - Elite für den Führer, Unsere Mütter, unsere Väter oder Woyzeck). Doch auch auf diese Naivität hat die Crew eine Antwort: Menschen scheuen sich vor Konflikten.
Und so hinterfragen wir auch nicht die gewollt Klischée-behafteten Figuren des Clay-Quartetts: Das schlechte Gewissen wird verkörpert durch Antoine Monot, Jr. und das nerdige Genie gemimt von Tom Schilling. Der mit Tatoos übersäte Wotan Wilke Möhring symbolisiert die rohe Gewalt und Elyas M’Barek den Charme.
Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Mit rasantem Erzähltempo, pulsierendem Soundtrack (Boys Noize - Alarm) und herausstechender Optik (merklich hatte Sony seine Finger im Spiel) charakterisiert Regisseur Baran Bo Odar den gefährlichen Sog in die virtuelle Welt. So spielen 90 Prozent des Films bei Nacht oder in verdunkelten Räumen, um Clay’s dreistes Agieren aus dem Verborgenen zu thematisieren. Kernstück ist dabei eine U-Bahn, die die verschiedenen Internet-User visualisiert, die in Foren miteinander kommunizieren. Da man sich nie sicher sein kann, wer virtuell vor einem steht, trägt jeder eine Maske. Der Big Player wird lediglich MRX genannt, symbolisch auch hier wieder bloß ein Codename und die Unsicherheit, um wen es sich handelt, denn es könnte jeder x-beliebige sein, ein Mister X eben.
Who Am I zeigt die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten aber auch Gefahren, die das Internet bei der Identitätssuche bereitstellt: „Im Netz kann ich sein, wer ich will. Ich kann dein Freund sein, dein Feind, ein Held. Und keiner weiß, wer ich wirklich bin“, provoziert Benjamin aus dem Off und zieht sich die verschiedensten Masken vom Gesicht. So wird auch immer wieder der belgische Surrealist René Magritte thematisiert. Benjamin beäugt mehrmals misstrauisch Magrittes Gemälde von einem Mann im schwarzen Anzug, der vor einem Spiegel steht. Doch anstatt sein Gesicht im Spiegelbild zu sehen, sieht er lediglich seinen Rücken, genau, wie der Betrachter den Mann von hinten sieht. Die Frage „Wer bin ich? Wer bist du?“ wird somit unaufhörlich aufgeworfen.
Der Titel Who Am I ist in der Computersprache ein Unix-Befehl, den man eingibt, um sich seiner Identität zu versichern. Doch in dem Psycho-Thriller kann man sich nichts sicher sein. Denn besonders reizvoll finden die Hacker andere Menschen, die als manipulierbare „soziale Systeme“ gesehen werden. Raffiniert führt Tom Schilling nicht nur seine Gegenspielerin, die BKA-Agentin Lindberg, hinters Licht, sondern auch den Zuschauer. Gekonnt spielt Benjamin mit Sehkonventionen und unzuverlässigem Erzählen. Als Zuschauer überschätzt man sich schnell, weil man denkt, man entdeckt als erfahrener Seher Hinweise auf das, was Wirklichkeit ist. Doch man kann sich bei Who Am I nie sicher sein, ob es sich vielleicht um einen gewollten (manipulierten) Hinweis handelt. Denn Manipulation wirkt schließlich am besten, wenn man sie nicht bemerkt, so Clay. Nicht umsonst ist der Filmtitel als offene Frage formuliert.
Fazit
Who Am I besticht mit seiner herausragenden Optik, einem komplexen und schlüssigen Plot, pulsierendem Soundtrack sowie mit einem überzeugenden Schauspiel-Quartett: ein topaktueller Psycho-Thriller made in Germany!